Von Grenzern und Grenzenlosigkeit

Auf meinem Weg, ein Angler zu werden, beobachte ich meinen nervösen Vater mit fetter Flunder in der Hand, zehn Jahre später ziehe ich meinen ersten kleinen, aber feinen Hecht aus dem Wieker Bodden, und kurz darauf folgen meine ersten dicken Dorsche aus offenem Meer / Erinnerungen an die Ostsee 1987 und 1999. Nicht mehr lange, und die Grenzer mit ihren Kalaschnikows werden uns hier die Leviten lesen. Das verrät zumindest das Gesicht meines Vaters, als er auf seine Uhr blickt. Es ist fast schon eine Stunde vor Sonnenuntergang in diesen Sommerferien 1987 am Tromper Wiek, am Strand vor Altenkirchen – vor dem nördlichsten Zipfel der DDR. Kap Arkona liegt einen Fußmarsch entfernt. Und eigentlich haben FDGB-Urlauber in der heraufziehenden Dunkelheit am Strand nichts mehr verloren. Republikfluchtgefahr.

Plötzlich reißt es meinen Vater aus seinem Klappstuhl. Er springt so blitzschnell auf, wie das um die Sehne gewickelte, zuvor in den Sandboden gesteckte Alupapier nach oben schießt. Biss! Bis hinter die zweite Sandbank hatte es das Wurmbündel am Haken dank schwerem Blei und ablandigem Wind geschafft. Die quicklebendigen Biester hatten wir am Nachmittag erst vor unserem Bungalow aus dem Rasen gejagt: Gießkanne drüber, Metallstab rein, Strom rauf, abwarten und dann aufsammeln. Nun zapppeln sie in den Mundwinkeln eines mir noch unbekannten Fischs. Die unverwüstliche Germina-Fiberglasrute krümmt sich aufs Äußerste, weil die fette Flunder erst aufgibt, als sie im Sand liegt. Wow, was für ein Abenteuer. Das will ich auch, denke ich, kämpfe allerdings als kleiner Steppke statt mit Fischen erstmal nur mit meinem Sonnenbrand weiter. Und ich kehre auch erst gut zwölf Jahre später zurück an die See, lange nach der Wende.

In einer anderen Ecke der Insel Rügen trat ich im Jahr 1999 meinen Zivildienst in Deutschlands größter Jugendherberge an. Die stand kurz vor ihrer Schließung, und weil ohnehin kaum einer noch Bock auf Arbeit hatte, scherte sich wohl auch keiner darum, wenn der langhaarige Kriegsdienstverweigerer mal wieder seinen Dienstbeginn verschlief. Doch an diesem Spätsommertag befand ich mich nicht im Bett, sondern auf einem Boot. Es war vielmehr eine gut motorisierte, schneeweiße Nussschale, die hätte auch gut bei Flipper durchs Bild fahren können. Ein Freund aus Potsdam war zu der Zeit gerade auf der Insel in dem Ferienhaus seiner Eltern. Zwei andere Jungs quetschten sich noch mit auf den Minikahn. Es waren beides überzeugte Bundies. Der eine war auf Urlaub und sonst im Kosovo, der andere bei der Luftwaffe in Italien.

Die Mission konnte beginnen, sogar Echolot hatten wir an Bord. Von der Wittower Fähre aus ging’s quer über den durchweg etwa drei, vier Meter flachen Wieker Bodden. Salzwasser. Und ich, im Gegensatz zu den anderen Sonnenbadern der einzige Angler an Bord, hatte nichts mehr dabei als meine olle Dorfteichrute. Auch an meinem Drei-Zentimeter-Barschspinner, in Brandenburgs Seen immer voll bewährt, hatte ich dort in dem schier unendlich großen Salzwasserbecken einfach keine Freunde.

 

So schlug die Stunde für meinen bis dahin noch nie benutzen, größten und schwersten Effzett-Blinker. Pausenlos zog ich ihn durchs Seegras. Bis er hängen blieb – und ich erst gar nicht kapierte, gleich den ersten Hecht meines Lebens in Händen zu halten. Aus heutiger Sicht weiß ich: Der hatte nicht gekämpft. Damals aber dachte ich an Hemingway und den alten Mann in seinem Boot.

Wir ließen den Bodden hinter uns. Die Insel Hiddensee kam in Sichtweite. Wir schoben uns Richtung Norden immer weiter über die seichten Wellenkämme aufs offene Meer hinaus, bis uns schon mehr als zehn Meter vom Ostseegrund trennten. Wahnsinn: Keiner hatte einen Bootsschein. Wenn was schiefgegangen wäre, mal richtige Wellen dagewesen wären, wie sie die Ostsee ja auch ausspucken kann, dann wären wir alle bestimmt auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Zwölf Jahre zuvor allerdings wären wir wohl noch nichtmal bis auf den Bodden gekommen. Die Soldaten der NVA-Grenztruppen hätten uns sicher längst mit aller Macht daran gehindert, tatsächlich auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, nämlich rüber zum Klassenfeind. Im DDR-Angelführer von 1982 lässt sich noch heute für dieses gesamte Gebiet bedrohlich und kursiv hervorgehoben nachlesen: „Unbedingt Sperrgebiete beachten!“ Jetzt aber herrschte für uns wieder Grenzenlosigkeit. Und wir waren abgeschnitten von der Außenwelt. Ein Blick zurück über die Schulter, wo die Nordspitze der Insel, der so genannte „Tote Kerl“, immer kleiner wurde.

 

Handys kannte damals noch keiner von uns. Aber wir hatten ein Echolot dabei, und das hatten die beiden Bundeswehrkameraden unseres illustren Teams an Bord sofort im Griff. Dass dieses Teil funktionierte, glaubten wir erst, als plötzlich ein Fischschwarm auf dem Display erschien wie aus einem schlechten Taschen-PC-Spiel. Da fassten sich alle nur noch an den Kopf. Wie im Film und doch Realität. Der Vater unseres Bootsfreundes hatte das Ding ja nicht umsonst an seinem Kahn befestigt und Pilker in einer Kiste liegen, diese mehr als zehn Zentimeter großen, schweren Metallfische. An einem war sogar noch ein Gummifisch vormontiert. Probieren geht über studieren, also konnte es losgehen.

Nur vom Hörensagen her wusste ich, wie das mit dem Pilkern funktioniert. Und so ließ ich den Köder auf den Boden sinken, um ihn anschließend zickzackartig auf und ab zu lassen. So wie mit Gummifisch auf Zander in der Havel etwa, doch sehr viel anstrengender. Ob das am Ende auch so richtig war, wusste ich erst, als tatsächlich der erste Dorsch am Haken hing und ihm noch drei weitere folgten. Hochseefischen, Kinderspiel. Pah! Dachte ich mir, als wir dann später in der Jugendherberge die beiden fettesten der gefangenen Dorsche sauber filetiert und gebraten in uns hineinschoben – in grenzenloser Freude.

2 thoughts on “Von Grenzern und Grenzenlosigkeit”

  1. hallo,

    beim letzten dorschangeln hab ich beim ausnehmen in den magen geschaut. wo u.a. 3 krabben waren. gibt es einen kunstköder, der einer krabbe ähnlich ist oder womit fischt am besten, wenn die dorsche (scheinbar nur) auf krabben stehen?

    danke und petri heil,
    stefan

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